Kein Ersatz für eine Feuersbrunst

Die winzigen Hühner, die sich sonst von Korallen ernähren,
rennen hinaus auf den Boulevard und picken alles an:
Bäume
Schaufenster
Gehsteige
Sackgassen
Zeitungskioske
Casinos
Bistros
Cafés
Bars
Häuser
Restaurants
Kantinen
Friseursalons
Reinigungen
Kaffeeclubs
Teehäuser
Tabakkreise
Tabakspfeifenhöfe
Bibliotheken
Audiotheken
Videotheken
Kinos
Theater.

Nanu, was seid ihr Dickerchen so wild, frage ich.
Wir sind nicht wild, nicht wild, wir legen heute Feuer.

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig


Die Wahl

Sagen wir, sieben Tulpen.
Wie wählt man von ihnen einen Baron?

Mit der Abzählmethode
oder nach dem Knospenstand?

Würdest du die Temperatur der Blüten messen,
oder mit der Mikrobendichte
die Herkunft bestimmen?

Ich persönlich würde den Titel für die Kraft
der Pflanze vergeben:
Ob ihr Stiel einen Gorilla tragen könnte.

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig


Die kleinen Diener

Libellen gab es schon, als auf unserem Planeten
Urfarne und Kühle vorherrschten
und Wasserorganismen allmählich Amphibieneigenschaften
annahmen.
Die Libellen zerrissen mit ihren Mundwerkzeugen kleine Jungfische, Zecken und Spinnentiere:
Die üppige Umwelt garantierte ihnen ein Überleben noch
für hundert Millionen Jahre.

Weder die Farne noch die Libellen und die anderen,
schwächeren winzigen Organismen ahnten,
dass sich einst aus den Wassern der Affe entwickelt und mächtig wird,
auf der Erde eine ganze Infrastruktur für sich erschafft:
Dienstleistungen, Schmuck und Nahrungsergänzungsmittel,
die ihm ein längeres Leben
garantieren.
(Nur ihm.)

Die Apothekerin mit den Libellenohrringen
überreicht liebenswürdig achtzehn Päckchen Rutin-
Ampullen
und doppelt so viele Bandagen zum Stillen
von Blutungen.
Sie hört sich die Litanei über achtlose Ärzte,
unerhörte Preise und
das Wachen an der Tür der Chemotherapieabteilung an.

Hinter ihr, in einer Vase, mit dem Gesicht zur Kasse –
ein Zimmerfarn.

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig


Nichts hat sich geändert

Eine gefährliche Vogelscheuche setzte sich auf den Posten
des mächtigsten Führers:
Die ganze Stratosphäre stöhnte auf,
Furcht lähmte die Völker.

Doch eigentlich hatte sich nichts geändert:
Die Verkäuferinnen in den Copyshops brühten sich
Kaffee auf,
um dann weiterhin die Papiere der Kunden zu scannen
und die Jahresarbeiten von Studenten einzubinden –
sie nehmen wie üblich Flash Drives an.

Die Fahrer der kleinen Fernbusse hören Hits und
schreien wie immer:
Einsteigen, einsteigen, Tür zu, wir sind kein Trolleybus.

Zum Sport verabredete Freundinnen
gehen wirklich hin.

Der Jugendliche grämt sich weiterhin, dass sein Bart
nicht dichter sprießt,

der neue Küchenhelfer schneidet sich in den Finger 
und sucht ein Pflaster.

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig


Wunderbare Konzentration

Die Nachbarn aus demselben Treppenhaus treffen sich am Eingang,
reden über den Strom und die eingegangenen Rechnungen,
besprechen eine vom Verwalter ausgeschickte Ankündigung – 
nach der Abschaltung der Heizung zeigt sich die jahreszeitliche Temperatur.

Auf der Treppe taucht auch eine bejahrte,
ihrem Alter nach nicht schlecht aussehende Katze auf.
Sie geht, um nach dem im Wind sich wiegenden Gras zu sehen
und am Müllcontainer zu riechen,
woraus der Fischgestank in zerstreuten Noten aufsteigt. 

(Plastik, getrennt von Papier, und Glas von Bio-Müll
lässt die Gerüche verschwinden.)

Sie geht vorbei an diesen beiden Männern,
stolz und gleichgültig,
konzentriert auf ihre eigenen Angelegenheiten, ihr eigenes Ziel.

Wäre die Mutter dieser Katze eine aus Mitleid gezähmte 
Wildkatze, wäre sie in Rom geboren
und hätte ihren ersten Wurf in eine abgelegene 
Ecke des Kolosseums gebracht 
oder in die Umgebung des Amphitheaters der Gladiatoren, 
würde ihre Tochter genauso gleichgültig zuschreite
auf ihr Ziel: 
Sie würde das historische Erbe ignorieren oder
– wie in diesem Fall –
die Neuigkeiten des Wohnblocks.

Aus dem Litauischen von Cornelius Hell


Der letzte Tag 

Sieh da, ein Kastanien-Ghetto
mit bauchredenden Ziegen:
ihre Hufe werden als Omelette
den letzten Tag der Welt kochen
die Planeten werden ihre Arbeit einstellen
und die in schwarze Handtaschen abgelegten Lippenstifte
werden ihre eigene rotierende Achse küssen. 

Aus dem Litauischen von Cornelius Hell


Ich bin ein Leckerbissen 

Die Bibliothek ist öffentlich.
In der Nähe – 
hinter dem Zaun – stehen Holzhäuser.
Die Gärten – 
Hütten mit Hündinnen.
Durch den Zaun springt eine heraus
und an die Hand geschmiegt holt sie sich
etwas von meinem Fleisch.

   SOS!

Als wäre das ein Brief 
als wäre das unaufschiebbar.
Der Tonus der Kinder der Hündin ist erhöht
ich höre – sie winseln –
sie trinken mein Blut wie Kaffee.
Mein Fleisch
nehmen sie zu sich wie ein Biskuit.

Aus dem Litauischen von Cornelius Hell

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig und Cornelius Hell

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